Die Koppenleiten,
Rudolf Kriss und der SS-Obersturmführer Alfred Karasek.

Ein zum Tode Verurteilter und ein SS-Kulturguträuber

Der Gutshof Koppenleiten in Unterau bei Berchtesgaden, knapp unterhalb von Hitlers Berghof am Obersalzberg gelegen, wurde in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Zufluchtsort für Flüchtlinge, denen der Brauereibesitzer, Bürgermeister von Berchtesgaden und Professor für deutsche Volkskunde, Rudolf Kriss (1903-1973), dort Unterkunft gewährte. Dazu zählten unter anderen Kriss‘ Wissenschaftskollegen aus Wiener Zeit, der spätere Leiter des Volkskundemuseums in Wien, Leopold Schmidt (1912-1981) und der Sprachinsel- und Vertriebenenforscher Alfred Karasek (1902-1970) mit seiner Familie, die der Nationalsozialismus alle in Wien getrennt und nach seinem Ende in Unterau bei Berchtesgaden wieder zusammengeführt hatte.

Koppenleiten um 1980
Koppenleiten um 1980

1933 gründeten die drei an der Universität Wien die „Arbeitsgemeinschaft für Volkskunde“, um darin „alles zu versammeln, was in Wien Volkskunde betrieb“, und verstanden dies als Aufbruch einer neuen, jungen Generation. Aber die Zeit des Nationalsozialismus – in Österreich 1938 bis 1945 – entfremdete sie. Kriss zog sich nach einem Lehrverbot durch die Nazis bald nach Berchtesgaden zurück und nach 1945 fanden sie nur mehr fachlich und das in geringem Ausmaß zusammen.

Rudolf Kriss

wurde 1903 in Berchtesgaden in eine Guts- und Brauereibesitzerfamilie hineingeboren, absolvierte nach der Volksschule in Berchtesgaden in München das Wittelsbacher Gymnasium und promovierte 1928 an der Münchner Universität in Religionsgeschichte und Deutscher Philologie. Seine anschließende private Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der religiösen Volkskunde führte ihn nach Süddeutschland, Österreich, die Schweiz und Südosteuropa und erbrachte eine großartige, in Wien ausgestellte Sammlung. An der dortigen Universität habilitierte er sich auch im Fach „Deutsche Volkskunde“ und nahm im Herbst 1933 seine Lehrtätigkeit in religiöser Volkskunde auf, doch schränkte ihn das Wetterleuchten am politischen Himmel bald wieder ein.  So musste er die Ausstellung seiner von seinem Studenten Leopold Schmidt betreuten Sammlung aus den hellen Burggartenräumen in kleinere Räume übersiedeln.

Alfred Karasek

wurde 1902 zur Zeit der Habsburger Monarchie im königlich böhmischen Brünn als Sohn eines Bauleiters und einer Hausfrau geboren, verbrachte aber seine Kindheit und Jugend im an der schlesisch-galizischen Grenze gelegenen Bielitz-Biala, wohin der Vater versetzt worden war. Die Stadt lag in einer Region mit mehrheitlich polnischer Bevölkerung, während die Stadt selbst eine mehrheitlich deutsche hatte. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs der Anteil und damit der Einfluss der polnischsprachigen Bevölkerung stetig an, was nach 1900 immer mehr zu nationalistischen Reibereien vor allem unter Jugendlichen führte und Karasek sowie einige seiner später ebenfalls in Wien studierenden Freunde stark prägte. Zunächst absolvierte er in Brünn ein Studium zum Bauingenieur und den Wehrdienst in der tschechoslowakischen Armee, bevor er 1928 nach Wien übersiedelte, um dort Volkskunde bei Arthur Haberlandt zu studieren. Bereits ab Anfang der 1920er Jahre veröffentlichte er Aufsätze und unternahm gemeinsam mit seinen Freunden immer weiter nach Osten führende Reisen, die sich vor allem der Erforschung von Sagen und Märchen aus den deutschsprachigen Siedlungen widmeten.

In damaligen Fachkreisen fast legendär wurde eine im Jahr 1926 durchgeführte Reise ins heute im nordwestlichen Teil der Ukraine gelegene und nach Weißrussland hineinreichende Wolhynien. Karasek und sein Freundeskreis glitt immer mehr in die zunächst nationalistische und ab den frühen 1930ern in die nationalsozialistische Gedankenwelt ab. 1933 trat er der im gleichen Jahr in Österreich verbotenen NSDAP bei und war in den Folgejahren unter anderem als NS-Schulungsredner tätig. Daneben betrieb er weiter seine Sprachinselforschung im Osten, deren Ergebnisse in die Planung und Durchführung der im Hitler-Stalin-Pakt beschlossenen zwangsweisen Umsiedlungen deutscher, weißrussischer und ukrainischer Minderheiten in die jeweiligen Einflusssphären einflossen.

Leopold Schmidt,

wurde 1912 als Sohn eines Briefträgers und einer Hausmeisterin in Wien geboren, wo er auch seine Jugend und Studienjahre verbrachte. Während seines Studiums lernte er Rudolf Kriss kennen und verbrachte mehrere seiner Sommerferien bei Kriss in Berchtesgaden.

Wissenschaftler

Kriss, Karasek und Schmidt waren in den 1930ern in ihrem – auch gemeinsamen – wissenschaftlichen Forschen und Publizieren sehr aktiv, der dramatische Wechsel vom austrofaschistischen Ständestaat zum nationalsozialistischen Regime unter Adolf Hitler brachte jedoch auch für die drei Volkskundler tiefgreifende Änderungen. Kriss ging in die Emigration nach Berchtesgaden, Schmidt musste 1939 als „einfacher“ Soldat zur Wehrmacht einrücken, wohingegen Karasek als überzeugter Nationalsozialist in der Umsetzung der „Eroberung von Lebensraum im Osten“ sehr aktiv war. Ab Mitte der 1930er war er in der bereits NS-lastigen Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft (SODFG) tätig und dabei mit vielen anderen für das NS-Regime immer mehr auslands-nachrichtendienstlich tätig (später RSHA Abteilung VI G). In dieser Zeit hielt er rund 200 Vorträge an der Universität, bei der Hitlerjugend, dem BDM, etc. sowie 14 Rundfunkbeiträge. Im Winter 1939/40 wurde er als Fachmann bei der Rücksiedlung der Wolhyniendeutschen, später auch der Bessarabiendeutschen herangezogen und im Auftrag des Oberkommandos der Wehrmacht als Gebietsbevollmächtigter der Region Luzk (damals sowjetisch besetzt, heute Ukraine) und später in der Beresina eingesetzt.

Kulturguträuber

Ab 1941 war Karasek auch immer wieder für Spezialeinsätze im „Außendienst“ unterwegs. Als nunmehriger Angehöriger der SS und im Reichsicherheitshauptamt im persönlichen Führungsstab von Heinrich Himmler eingeteilt, beteiligte er sich führend an Kulturraubaktionen beispielsweise in Kiew, Odessa, Stalingrad (Wolgograd) und Woronesch. Dazu zählten die Plünderungen von Bibliotheken und Archiven durch das SS-Sonderkommando Künsberg. Dieses hatte im Rahmen des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion seine Arbeit unter dem Befehl aufgenommen, „politisch relevantes Material“ zu beschaffen, das „den Gegner in seiner ideologischen Motivation“ erkennen und brechen könne. Das erbeutete Material wurde in Wien und Berlin ausgewertet. Doch auch in dieser Phase nutzte er die Gelegenheiten, um seine wissenschaftliche Sammlung zu erweitern und zu publizieren.

Im Dezember 1942 heiratete er mit Sondergenehmigung des „Reichsführers SS“ Heinrich Himmler die Malerin und Schriftstellerin Hertha Strzygowski (vgl. Berchtesgadener Heimatkalender 2021, 66). Sie war ebenfalls seit 1933 NSDAP-Mitglied und in der NS-Frauenschaft aktiv. Im Frühjahr 1944 war Alfred Karasek noch an der Plünderung jüdischer Buchhandlungen in Budapest beteiligt und vermutlich auch in die Vertreibung der Besitzer- und Mitarbeiter:innen involviert. Wo er die letzten Kriegsmonate im Winter 1944/45 verbrachte, ist unklar, nur für die letzten Wochen vor der Kapitulation gibt es vage Hinweise auf die Steiermark, den Raum Graz sowie das im oberen Murtal gelegene Stift St. Lamprecht.

Während Alfred Karasek also als Umsiedlungsbevollmächtigter, Kulturräuber und gleichzeitig als Wissenschaftler tätig war, diente Leopold Schmidt als Soldat und Schreiber in einer Telegraphenbaukompanie in der Wehrmacht und auch er konnte, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, seine wissenschaftliche Arbeit zeitweise fortsetzen.

Demgegenüber geriet Rudolf Kriss Anfang 1944 in die Mühlen der verbrecherischen NS-Justiz. Auf Grund einer Denunziation nach unvorsichtigen und aus dem Zusammenhang gerissenen Äußerungen sowie Unterstellungen wurde er im Januar 1944 von der Gestapo festgenommen und umfangreichen Verhören unterzogen, sein Zuhause, die Koppenleiten, durchsucht und er selbst zu Verhören nach München ins Gefängnis Neudeck gebracht, wo er, unterbrochen durch einen zweimonatigen Aufenthalt in der Krankenstation des Gefängnisses in Stadelheim wegen einer Drüsengeschwulst am Hals, neun Monate einsaß. „Wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf am Dienstag, 19. September, die Anklage des Volksgerichtshofes ein zusammen mit dem Befehl zum sofortigen Abtransport nach Berlin.“ schreibt Kriss in seinem autobiografischen Buch „Im Zeichen des Ungeistes“. Trotz zahlreicher Fürsprachen, u.a. von den Berchtesgadener Weihnachtsschützen, wurde er in einer sehr gehässig gehaltenen Verhandlung vom Präsidenten des Volksgerichtshofes, Roland Freisler, nach kurzem Prozess zum Tode verurteilt und verbrachte niederschmetternde Wochen in der Todeszelle, bevor im November 1944 nach einem Gnadengesuch, das Todesurteil in lebenslangen schweren Kerker gewandelt wurde, den er in München verbüßen sollte. Bis zum allerletzten Kriegstag wurde der auf siebenundfünfzig Kilo abgemagerte Verurteilte unter unmenschlichen Bedingungen von Lager zu Lager getrieben.

Kriegsende – die Koppenleiten

Ohne voneinander zu wissen, verbrachten Rudolf Kriss im Gefängnis und Leopold Schmidt bei seiner Truppe die Ostertage 1945 in beziehungsweise nahe Straubing. Das Kriegsende und seine Befreiung durch US-Soldaten erlebte Kriss in Landshut. Zu Fuß und zeitweise per Fahrrad unterwegs erreichte er am 13. Mai 1945 von Salzburg aus kommend Berchtesgaden, wo ihm ein herzlicher Empfang bereitet wurde.

Leopold Schmidt brachte die letzten Kriegswochen bei seiner Einheit zu, erlebte das Kriegsende im salzburgischen Abtenau und kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er einige Wochen später nach Berchtesgaden entlassen wurde. Rudolf Kriss beschränkte sich in der Koppenleiten selbst auf eine bescheidene Wohnung und nahm Schmidt, wie auch einige andere Flüchtlinge in sein Gut auf. Schmidt schrieb in seinen Erinnerungen dazu: „Da halfen mir also Kriss und sein Haus über den Abgrund zwischen Krieg und Frieden hinweg.“ Im Herbst ging er zurück nach Wien und wurde von der Regierung, auch mangels nicht NS-belasteter geeigneter Kandidaten, zum Direktor des Volkskundemuseums bestellt.

Karaseks Ehefrau Hertha flüchtete im Winter 1945 mit ihrer einjährigen Tochter Dietlind am Arm vor den herannahenden Russen aus Wien zunächst in die niederösterreichischen Berge und dann im April weiter nach Tirol, wo sie mit Hilfe des Volksliedforschers Karl Horak, einem Freund aus Wiener Zeiten, in Schwaz Unterschlupf fand. Ende Mai 1945 stieß Alfred Karasek schmal und ausgezehrt zu seiner Familie. In den folgenden Monaten kam die Familie nur schwer über die Runden. Im zeitigen Frühjahr 1946 ging Karasek vorbei an den strengen Grenzkontrollen über die Berge nach Deutschland, um dort in den Auffanglagern unter den vertriebenen „Volksdeutschen“ wieder Sagen und Märchen zu sammeln. Es kann allerdings auch angenommen werden, dass dies mit dem Entziehen vor der Entnazifizierung zu tun hatte. Die Schreckensbotschaft kam im Mai 1946, Hertha Karasek-Strzygowski wurde mit ihrer kleinen Tochter, da alle Familienmitglieder nach der damaligen Gesetzgebung keine Österreicher waren, nach Deutschland ausgewiesen. Über mehrere Stationen landeten sie im großen Lager Dinkelsbühl nahe Nürnberg und von dort ging es bald weiter zu einem Arbeitseinsatz bei Bauern. Bereits im Sommer 1946 konnte sie Ihren achtzigjährigen Vater Rudolf Strzygowski in Kirchanschöring am Waginger See erstmals nach zwei Jahren wieder in den Arm nehmen und fuhr von dort weiter zu Professor Kriss nach Berchtesgaden, der ihr gleich ein Zimmer in der Koppenleiten anbot, das sie freudig annahm. Gemeinsam mit Tochter Dietlind und ihrem Vater bezog sie kurz darauf ein kleines Zimmer. Ihr Mann Alfred stieß, abgesehen von wenigen kurzen Besuchen, erst 1949 zu ihnen. 1950 zog die Familie in ein Haus im Besitz von Kriss in der Bräuhausstraße 11 in Berchtesgaden um, wo nun Hertha gemeinsam mit Mann Alfred, Tochter Dietlind, Vater Rudolf Strzygowski und dem hinzugekommenen Neffen Rudolf Strzygowski (Schüler der Schnitzschule) lebte. 1957 konnten sie ihr eigenes Haus in der Moossiedlung in Bischofswiesen beziehen, das sie zu einem guten Teil mit den Einkünften aus der sehr intensiven Arbeit von Hertha als Malerin von Kinderportraits und Bildern von Vertriebenen in ihren Trachten im Auftrag großer Museen finanziert haben.

Rudolf Kriss wurde von den Amerikanern als Bürgermeister von Berchtesgaden eingesetzt und Karasek verdingte sich als Betonarbeiter in Ehringshausen nahe Wetzlar bevor er 1949 zu seiner Familie zurückkehrte. Beide waren weiterhin wissenschaftlich tätig, Kriss einige Jahre als Professor für Volkskunde in Salzburg, Karasek machte sich einen Namen als Vertriebenen- und später als Krippenforscher und gründete mit finanzieller Unterstützung verschiedener staatlicher und privater Organisationen in Bischofswiesen die Forschungsstelle Karasek für ostdeutsche Volkskunde. Kriss und Karasek blieben in losem fachlichem Kontakt, Schmidt hielt weiterhin guten Kontakt zu Kriss, zwischen Karasek und Schmidt kam es zu mehreren teilweise öffentlich ausgetragenen Fehden zu Fachthemen.

Alfred Karasek und Rudolf Kriss wurden beide am Bergfriedhof in Schönau bei Berchtesgaden begraben.

WJG

Literatur

Rudolf Kriss, Im Zeichen des Ungeists, Berchtesgaden 2015.

Leopold Schmidt, Curriculum Vitae, Mein Leben mit der Volkskunde, Wien 1982.

Michael Fahlbusch et. al., Handbuch der völkischen Wissenschaften, Berlin 2017.

Fotos: © Historiö/WJG/DSK

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