Wilhelm Julian Gruber
1848/49 – Als der Kaiser auf sein Volk schießen ließ
Aus dem Vormärz in die Revolution
Mehr als in jeder anderen Epoche war Politik im 19. Jahrhundert in Europa revolutionäre Politik. Revolution wurde zu einer zentralen Idee des politischen Denkens, auch wenn die meisten der rund 150 Revolutionen zwischen 1792 und 1891 ihr Potential nicht in nachhaltig wirksame Aktionen umsetzen konnten.1Vgl. Jürgen OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt, eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2. Auflage, München 2016, 736–740. In den Revolutionen der Jahre 1848/49 brachen die ungelösten Strukturfragen des österreichischen Kaiserstaates erstmals gewaltsam auf. Während der Jahrzehnte des Vormärz war die Frage der politischen Partizipation einer mündiger werdenden Gesellschaft von Staatsbürgern nicht gelöst worden.2Brigitte MAZOHL, Die Habsburgermonarchie 1848-1918, in: Thomas Winkelbauer, Hg., Geschichte Österreichs, 3. Auflage, Stuttgart 2018, 391–476, hier 391. Das städtische Bürgertum scheint eine starke unabhängige kulturelle Identität entwickelt zu haben, die es zunehmend von den sozialen und kulturellen Maßstäben der adeligen Gesellschaft unterschied. Es wollte aber keine Zerstörung der Macht des Staates erreichen, sondern durch die Beseitigung von Missständen die Staatsmacht durch die Schaffung eines konstitutionellen Rechtsstaates auf liberale Ziele lenken.3Vgl. Pieter M. JUDSON, Wien brennt! Die Revolution von 1848 und ihr liberales Erbe, Wien 1998, 24 f.
Dies stand im Widerspruch zu den Intentionen des Regierungssystems im Kaisertum Österreich und im Königtum Ungarn. In den drei Jahrzehnten vor 1848 litt es an Unbeweglichkeit und grundsätzlicher Reformfeindlichkeit. In der „Geheimen Staatskonferenz“4Die Geheime Staatskonferenz war eine konstruierte, bis März 1848 bestehende, formal nur beratende, tatsächlich aber sehr einflussreiche Körperschaft zur Entlastung des behinderten Kaiser Ferdinand I. Richard BAMBERGER / Ernst BRUCKMÜLLER / Karl GUTKAS, Hg., Österreich-Lexikon, Bd. 2, 2 Bde., Wien 1995, 427. in Wien herrschte Rivalität und Systemlosigkeit vor, höchste Priorität wurde dem Kampf gegen diese liberalen und demokratischen Gedanken eingeräumt. Die meisten wichtigen Herausforderungen, sogar die dringende Agrarreform, blieben ungelöst. Doch aufgeklärte Köpfe der österreichischen hohen Bürokratie waren sich der Übelstände des Vormärzregimes wohl bewusst und spielten eine wesentliche Rolle bei der Modernisierung des Rechtswesens und des Schulsystems, besonders bei der tatsächlichen Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht.5Vgl. Jiri KORALKA, Revolution in der Habsburgermonarchie, in: Dieter Dowe u. a., Hg., Europa 1848 Revolution und Reform, Bonn, Dietz 1998, 197–230, hier 197 f.
Im Jahr 1848 erhoben sich die Bürger und Bürgerinnen Österreichs unerwartet in einer fast allgemeinen Rebellion gegen ihre Herrscher. Gemeinsam mit Bauern, Arbeitern, [Studenten] und adeligen Dissidenten forderten die Männer und Frauen der besitzenden Klassen einen fundamentalen Wandel der österreichischen Regierungsform. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass die meisten Bauern ein Ende der feudalen Strukturen, besonders der verhassten Robot, forderten, oder dass die Arbeiter in vielen Städten gegen die Zustände in der Industrie und die inflationären Lebensmittelpreise der 1840er Jahre rebellierten.6Vgl. JUDSON, Wien, 9.
März – September 1848
Nur gerüchtweise hatten die Menschen in Wien Kenntnis von den Ereignissen in Palermo, Paris und Turin, die für Neapel – Sizilien und Piemont – Sardinien Verfassungen und für Frankreich das Ende der Juli-Monarchie brachten. Vage waren auch die Nachrichten über die Rede Lajos Kossuths7Lajos Kossuth, (1802 – 1894), Jurist, Politiker, Journalist, Staatsmann, vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon, https://biographien.ac.at/ID-0.3031278-1 (15.08.2020). am 3. März 1848 vor dem Landtag in Pressburg,8Pressburg/Bratislava/Posony – 70 km O Wien. in der er die konstitutionelle Umwandlung der Monarchie sowie Verfassungen für die österreichischen Länder forderte und von der am 5. März ergangenen Einladung zu einem „Vorparlament“ 9Frankfurter Vorparlament. von Abgeordneten „aller deutschen Länder“ nach Frankfurt am Main hatte man bloß andeutungsweise erfahren. Nur wenige in der Bevölkerung Wiens erkannten die Tragweite dieser Ereignisse.10Helmut RUMPLER / Herwig WOLFRAM, Hg., Österreichische Geschichte 1804 – 1914 Eine Chance für Mitteleuropa, bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997, 276.
Als am 5. März 1848 die Nationalbank einen Kassenbericht veröffentlichte und darin den Schuldenstand mit 81 Millionen Gulden bezifferte, kam Bewegung in die liberale Opposition. Da die wirkliche Verschuldung ein Vielfaches betrug, vermutlich 750 Millionen Gulden, wurde die verfassungsgemäße Kontrolle der Staatsfinanzen gefordert. Wie sich in den Folgetagen zeigte, war sich die Wiener Bevölkerung bereits damals über ihre [darüber hinausgehenden Forderungen] und das weitere Vorgehen nicht einig, trotzdem kapitulierte Fürst Metternich11Fürst Clemens Wenzel Lothar Metternich (1773 – 1859), k. k. Außenminister von 1809 bis 1848 BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 2, 51. und trat mit seiner Regierung zurück. Die im März überreichte Bürgerpetition war das politische Programm des Bildungs- und Besitzbürgertums. Die Studenten forderten Presse- und Gewissensfreiheit, Lehr- und Lernfreiheit, die Arbeiter und Bauern die Lösung ihrer sozialen Probleme. Die Lage eskalierte, die Soldaten wurden aus der Stadt zurückgezogen und die bürgerliche Nationalgarde sowie die Akademische Legion übernahmen die Sorge für Ruhe und Ordnung.12RUMPLER / WOLFRAM, Geschichte, 276 f.
In Ungarn vollzog sich der Wandel ruhiger. Der Landtag in Pressburg verabschiedete im März und April eine Reihe von liberalisierenden und konstitutionalisierenden Gesetzen. 23 von ihnen wurden von Kaiser Ferdinand I. als ungarischem König Ferdinand V.13Ferdinand I., 08.09.1793 Wien – 29.06.1875 Prag, Kaiser von Österreich 1835 – 1848, als Ferdinand V. König von Ungarn (1830 – 1848) Richard BAMBERGER / Ernst BRUCKMÜLLER / Karl GUTKAS, Hg., Österreich-Lexikon, Bd. 1, 2 Bde., Wien 1995, 310. bei einem Besuch des Landtages am 10. April – oft als „Aprilgesetze“ oder „Verfassung“ bezeichnet sanktioniert. Sie hatten für ein halbes Jahr eine konstitutionelle Regierung zur Folge. Bezeichnend für diese Periode waren Bauern- und Arbeiterbewegungen, judenfeindliche Unruhen und ein Aufstand der Nationalitäten. Außerdem entstanden tiefe Gegensätze zu Kroatien, zur österreichischen Regierung, zur kaiserlich-königlichen Armee und zum Herrscher.14Vgl. István DEÁK, Die rechtmäßige Revolution, Lajos Kossuth und die Ungarn 1848 – 1849, Wien / Graz 1989, 93–94, 101.
Am 25. April 1848 wurde die von Innenminister Pillersdorf15Franz Freiherr von Pillersdorf, 01.03.1786 Brünn – 22.02.1862 Wien, liberaler Gegner von Metternich, Hofkanzler, Innenminister, Ministerpräsident, arbeitete im April 1848 die „Pillersdorfsche Verfassung“ aus. Vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 2, 196. maßgeblich gestaltete „Verfassung des österreichischen Kaiserstaates“ verkündet und ebenso wurde eine ungarische Verfassung verkündet. Während die Märzrevolution vom Bürgertum getragen wurde, waren es im Mai vor allem die Studenten, die „auf die Barrikaden“ gingen, nachdem vom neuen Ministerpräsidenten Pillersdorf die Akademische Legion16Akademische Legion, Studentenfreikorps der Wiener Revolution 1848, vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 1, 14. aufgelöst werden sollte und die Universitäten geschlossen wurden. Am 17. Mai floh Kaiser Ferdinand I. daraufhin mit seinem Hofstaat nach Innsbruck. In den Folgemonaten konsolidierte sich die Lage. Unter dem Ministerpräsidenten Doblhoff17Anton Freiherr von Doblhoff-Dier, 10.11.1800 Görz/Gorizia – 16.04.1842 Wien, Politiker, Handels-, Innen- und Kulturminister, Ministerpräsident, Gesandter in Den Haag, vgl. ebd; BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 1, 225. amtierte ab Juli eine liberale Regierung und Erzherzog Johann18Erzherzog Johann von Österreich, 20.01.1782 Florenz – 10.05.1859 Graz, vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 1, 568. eröffnete den konstituierenden Reichstag. Die großen Ziele der Konstitutionalisierung schienen erreichbar. Aber Ungarn blieb nicht nur fern, sondern versuchte den völligen Ausstieg aus der Verbindung mit Österreich. Die Demokraten verließen den Weg des Verhandelns. Ein Ausgleich auf parlamentarischer Ebene wollte nicht gelingen. Das war die Stunde der Gegenrevolution.19Vgl. RUMPLER / WOLFRAM, Geschichte, 279–283.
Am 11. September setzte Banus Josip Jelačić20Joseph Graf Jelačić von Bužim, 16.10.1801 Peterwardein/Petrovaradin – 19.05.1959 Agram/Zagreb, GM, Banus von Kroatien, BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 1, 565, bereits als Feldzeugmeister im Schematismus 1850, 22. mit dem Gros seiner Truppen von Kroatien aus über die Drau. In seinem ersten Aufruf an die in Ungarn stationierten Soldaten erklärte er, er komme als Waffenbruder, um die kaiserlich-königliche Armee und die Einheit der Monarchie wiederherzustellen. Die Ungarn zogen sich zunächst kampflos zurück, besiegten aber die Kroaten am 29. September 1848 bei Pákozd21Pákozd – 50 km SW Budapest, 10 km NO Stuhlweissenburg/Székesfehérvár. und am 7. Oktober bei Ozora.22Ozora – 120 km SW Budapest, 60 km S Stuhlweissenburg/Székesfehérvár. Jelačić marschierte daraufhin über Györ Richtung Wien.23Vgl. DEÁK, Revolution, 144 f.
Oktober – Mitte Dezember 1848
An der Ungarnfrage entzündete sich auch das letzte Aufflammen der Wiener Revolution, als in der Öffentlichkeit bekannt geworden war, dass der gegen die Ungarn kämpfende Banus von Kroatien, Jelačić, mit Geld und Waffen unterstützt wurde. Als nun am 6. Oktober 1848 kaiserliche österreichische Truppen von Wien aus gegen das aufständische Ungarn ziehen sollten, versuchten die mit den Ungarn sympathisierenden Wiener Arbeiter, Studenten und aufständische Truppen den Abmarsch zu verhindern. Den Auftakt zur Wiener Oktoberrevolution markierte die Meuterei eines Grenadierbataillons in der Arbeitervorstadt Gumpendorf. Die Akademische Legion und Teile der bürgerlichen Nationalgarde schlossen sich den Meuternden an. Der Versuch von loyalen kaiserlichen Truppen, die Bogen der beschädigten Taborbrücke über die Donau, die von den Aufständischen zur Errichtung von Barrikaden verwendet worden waren, durch Pioniere wieder instand setzen zu lassen und somit den Abmarsch der Truppen nach Ungarn zu ermöglichen, scheiterte: In einem Gefecht mit den Aufständischen verlor der kommandierende General sein Leben und die regulären Truppen waren gezwungen, sich angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der Gegenpartei zurückzuziehen.24Vgl. Einsatz des Grenadier-Baon Schwarzl in den Einsatzsatzbeschreibungen von WG I. Kapitel 5.3. Kriegsminister FZM. Graf Baillet von Latour,25FZM. Theodor Graf Baillet von Latour, 15.06.1780 Linz – 06.10.1848 Wien, Offizier und Politiker, Kriegsminister, vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 1, 684. , der den Abmarsch der Truppen befohlen hatte, wurde von der aufgebrachten Volksmenge gelyncht. Im Folgenden kam es zu weitreichenden Straßenkämpfen in der Wiener Innenstadt, wobei selbst im Stephansdom Menschen umkamen. Wien war in der Hand der Revolutionäre. Am 7. Oktober flohen Kaiser Ferdinand I. und sein Hof neuerlich, diesmal mit der neuen Eisenbahn nach Olmütz.26Festung Olmütz/Olomouc – ca. 220 km NO Wien, 80 km NO Brünn.
Das war die Stunde, auf die der neue Oberbefehlshaber der Streitkräfte außerhalb Italiens, Fürst Alfred Windisch-Grätz27Feldmarschall Fürst Alfred zu Windisch-Grätz, 11.05.1787 Brüssel – 21.03.1862 Wien, vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 2, 651. und noch als FML und kommandierender General in Böhmen zu Prag, Schematismus 1848, 19. , seit Monaten gewartet hatte. Er erhielt die Erlaubnis, mit seinen Truppen von Prag nach Wien zu marschieren. Vor Wien wartete schon Jelačić mit der kroatischen Armee. Der Reichstag wurde aufgelöst und nach Kremsier28Kremsier/Kroměříž, ca. 50 km S Olmütz/Olomouc. verlegt. Am 31. Oktober wurde Wien im Sturm genommen und das zur Unterstützung der Wiener Aufständischen herannahende ungarische Heer bei Schwechat geschlagen. Auf die Nachricht des Vorrückens der ungarischen Armee hatten die Wiener Aufständischen erneut zu den Waffen gegriffen und sich gegen die in die Stadt einmarschierenden k. k. Truppen zur Wehr gesetzt. Damit wurde es Windisch-Grätz unmöglich gemacht, die bei Schwechat von Jelačić geschlagene ungarische Armee zu verfolgen. Die Drangsalierung der unterjochten „rebellischen“ Hauptstadt nahm nun anderthalb Monate in Anspruch. Gerade diese eineinhalb Monate waren dafür erforderlich, dass eine neuorganisierte reguläre ungarische Armee dem Angriff der k. k. Truppen gegen Ungarn entgegensehen konnte.29Vgl. Róbert HERMANN / Thomas KLETECKA, Einleitung, in: Christoph Tepperberg / Jolán Szijj, Hg., Von der Revolution zur Reaktion; Quellen zur Militärgeschichte der ungarischen Revolution 1848 – 49, Budapest, Wien 2005, IX–LV, hier XXXIII.
Zuvor wurden in Wien am 8. November Messenhauser30Cäsar Wenzel Messenhauser, 04.01.1813 Proßnitz/Prostějov – 16.11.1848 Wien, Offizier und Schriftsteller, 1848 Kommandant der Nationalgarde, vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 2, 49. als Stadtkommandant, der Journalist Jellinek31Hermann Jellinek, 22.01.1822 Drslawitz/ Drslavice – 23.11.1848 Wien, Offizier, Schriftsteller, vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 1, 566. und der Abgesandte des Frankfurter Parlaments, Robert Blum32Robert Blum, 10.11.1805 Köln – 09.11.1848 Wien, deutscher Politiker, kam 1848 im Auftrag der Liberalen nach Wien, vgl. ebd., 131. , standrechtlich erschossen. Der polnische General Josef Bem33General Josef Bem, 1795 Tarnow/Tarnów – 10.12.1850 Aleppo, Syrien, polnischer Offizier, vgl. ebd., 102. konnte nach Ungarn fliehen.34Vgl. RUMPLER / WOLFRAM, Geschichte, 285 f.
Die Revolution in Wien war damit zu Ende. Es war die kaiserliche Armee, die die Wiener Revolution niedergekämpft hatte. Das konnte sie aber erst, als klar war, dass sich die Liberalen von den Arbeitern und von der Revolution getrennt hatten. Wirklich besiegt wurde die Revolution jedoch vom liberalen Bürgertum, das sich dem Staat zur Verfügung stellte, wohl in der Hoffnung, ihn ein wenig [von innen] verändern zu können.35Vgl. ebd., 286.
Der Kaiser und vor allem sein Umfeld haben es dabei in Kauf genommen, große Teile der Bevölkerung in schwere Gefahr zu bringen und dass viele Menschen verwundet und getötet wurden. Judson spricht davon, „dass ein Staat seine eigenen Bürger massakriert“ hat. Im Jahr 1848 wurde der privaten Gemütlichkeit der gutbürgerlichen Biedermeierwohnzimmer mit dem bewussten Eintritt seiner Bewohner in die öffentliche und gelegentlich gewalttätige Welt der Politik ein brutales Ende zuteil. Die grotesken Szenen von Soldaten, die auf Männer und Frauen der Mittelklasse schießen, wirken besonders schockierend, weil die Rebellen eine unwirkliche Aura politischer Unschuld umgibt.36Vgl. JUDSON, Wien, 9–11.
Gegen die Ungarn – von Schwechat nach Arad
Gegen Ende 1848 hatte sich die militärstrategische Lage Österreichs entschieden geändert. Mit der Niederwerfung des Wiener Oktoberaufstandes war der Revolution die Spitze gebrochen worden und der Sieg Feldmarschall Radetzkys 37Johann Josef Wenzel Graf Radetzky (1766 Trebnitz/Trzebnica – 1858 Mailand), Feldmarschall, bedeutender Heerführer, Vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 2, 237. in Italien verschaffte der Regierung auch einen größeren außenpolitischen Spielraum. Wie ernst es den gefestigten konservativen Kräften mit der Einheit des Habsburgerstaates war, bewies das gewaltsame Vorgehen gegen die ungarische „Rebellion“.38Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, XXX.
Am 8. Oktober 1848 war Lajos Kossuth zum Vorsitzenden des als Regierung operierenden Landesverteidigungsausschusses gewählt worden. Dieser setzte die Arbeiten zur Aufstellung einer Armee fort und unterstellte die Wirtschaft den Bedürfnissen des Krieges. Nach der Kaiserthronbesteigung von Franz Josef I.39Franz Joseph I. (1830 – 1916), Kaiser 1848 – 1916, König von Ungarn 1867 – 1916. am 5. Dezember erklärte das Parlament, dass nur derjenige König von Ungarn werden könne, der den Eid auf die ungarische Verfassung ablege und sich mit der Stephanskrone krönen ließe. Auch Generalmajor Artúr Görgei40Artúr Görgei/Artúr Görgey deToporcz (1818 – 1916) – ungarischer General, ehemals k. k. Obrlt. im Husaren-Regiment Nr. 12, Schematismus 1844, 343. schloss sich im Namen der „Armee an der oberen Donau“ der Erklärung an. Nachdem die Weichen also in Richtung einer militärischen Konfrontation gestellt worden waren, begann Feldmarschall Windisch-Grätz Mitte Dezember 1848 seine militärischen Operationen.41Vgl. Christoph TEPPERBERG / Jolán SZIJJ, Hg., Von der Revolution zur Reaktion; Quellen zur Militärgeschichte der ungarischen Revolution 1848 – 49, Budapest / Wien 2005, XXXIV.
Am 30. Dezember 1848 hatte das ungarische Armeekorps unter Generalmajor Mór Perczel42Ritter Moritz/Mór Perczel von Bonyhád , 14.11.1811 Tolna – 23. Mai 1899, Bonyhád, ungarischer „Revolutionsgeneral“, Constantin von WURZBACH, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. Bd. 21, http://www.literature.at/viewer.alo?objid=11773&viewmode=fullscreen&page=2, Abs. 461–469 (13.08.2020). bei der Ortschaft Moor43Moor/Mór – ca. 90 km W Budapest. eine schwere Niederlage erlitten. Infolge dieser war es nunmehr unmöglich, den Angriff der k. k. Hauptarmee aufzuhalten und diese zog bereits am 5. Januar 1849 in Budapest ein.44Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, XXXIII f.
Unter der Annahme, die ungarische „Rebellion“ sei damit im Großen und Ganzen niedergeschlagen, wandte sich Feldmarschall Windisch-Grätz den politisch-administrativen Angelegenheiten des Landes zu. Einer Deputation des ungarischen Reichstages, die Anfang Januar 1849 mit dem Ersuchen um die Garantie der Verfassung des Jahres 1848 bei ihm vorstellig wurde, machte er klar, was sein Ziel war — „die bedingungslose Kapitulation der Rebellen“.
Am 31. Dezember 1848 beschloss der ungarische Reichstag, einen letzten Anlauf im Interesse des Friedens zu unternehmen. Lajos Kossuth übermittelte an Generalmajor Görgei mehrere Weisungen, die k. k. Armee vor der Hauptstadt in ein Gefecht zu verwickeln. Gleichzeitig blieb aber die Entsendung einer Friedensdelegation unerwähnt. Bei den Soldaten kam der Verdacht auf, dass ein Frieden unter Opferung der April-Verfassung von 1848 geschlossen werden könnte, womit sie endgültig die moralische Grundlage ihres Kampfes verlieren würden. Auch der Verdacht, dass der Landesverteidigungsausschuss die Republik ausrufen könnte, war für das monarchisch denkende Offizierskorps unhaltbar und führte zu vielen Dienstquittierungen. Zur Verhinderung der Auflösung des Offizierskorps erläuterte Görgei am 5. Januar in Waitzen45Waitzen/Vác – ca. 40 km N Budapest, N des Donauknies. in einem Tagesbefehl die politischen Ziele der Armee als politische Grundlage für einen Kampf für ein verfassungsmäßiges ungarisches Königtum, die auch die Kriegerehre des Armeekorps selbst garantieren sollten. Damit verlieh er sich vor seinem Offizierskorps den Schein der Opposition, kündigte aber Kossuth den Gehorsam keinesfalls auf.
Feldmarschall Windisch-Grätz missverstand jedoch die Situation. Nachdem er die Truppen Görgeis weder erreichen noch umzingeln konnte, bot er Görgei Ende Jänner 1849 freies Geleit ins Ausland und eine Amnestie an, wenn dieser die Waffen niederlegen sollte. Als Antwort überreichte Görgei dem Überbringer der Nachricht eine Kopie der Waitzener Erklärung, mit der Aufforderung, diese als Antwort für den, der Ihn gesandt hatte, mit dem Bemerken, dies sei das Ultimatum des Armeekorps von der Oberen-Donau und seines Kommandanten zu übergeben. Als sich im Januar weiters herausstellte, dass die ungarische Armee in einigen Wochen gegen die k. k. Soldaten von Windisch-Grätz eingesetzt werden würde, kam es zu einer zweiten Welle an Dienstquittierungen. Die ausgetretenen Offiziere wurden aufgefordert, sich zu entfernen und die so leer gewordenen Kommandochargen wurden durch niedrigere Ränge aufgefüllt. Die Mehrheit dieser Offiziere meldete sich freiwillig bei den k. k. Truppen, doch wurden sie alle sofort vor ein Kriegsgericht gestellt und bezahlten größtenteils ihr vorheriges Tun mit Gefängnisstrafen oder Degradierung.46Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, XXXV–XL.
Die Armee Görgeis bewegte sich nach der Aufgabe der Hauptstadt den Kriegsplänen entsprechend in Richtung der nördlich Pressburgs gelegenen Festung Leopoldstadt.47Leopoldstadt/Leopoldov/Lipótvár – ca. 70 km N Pressburg/Bratislava. Da zu befürchten war, dass er von den vor ihm stationierten und den ihm folgenden kaiserlichen Truppen umzingelt werden könnte, marschierte er Mitte Jänner in die Bergstädte Oberungarns und — nach einigen kleineren Niederlagen — über die Zips48Zips/Spiš/Szepes – ca. 290 km NO Budapest, 380 km O Brünn/Brno. Slowakei. zum Oberlauf der Theiß49Theiß/Tisza/Tisa – Fluss der in der Ukraine aus zwei Flüssen entsteht, heute u. a. Grenzfluss Ukraine – Ungarn, fließt durch Ungarn, um bei Novi Sad in Serbien in die Donau zu münden. Vgl. Briefe Wilhelm I. Herbst 1849 bis Sommer 1850, Marmaros, Szigeth/Sighetu. . Wegen der Kriegsoperationen Görgeis in Oberungarn wagte wiederum Windisch-Grätz nicht, Budapest zu verlassen. Die so gewonnenen zwei Wochen genügten vollauf, die ungarischen Verteidigungsmaßnahmen zu konsolidieren. Nach dem Durchbruch beim Pass Branyiszko50Branyiszko/Braniskom/Branyiszkó – ca. 60 km NW Kosice, Slowakei. am 5. Februar 1849 gelangte Görgeis Armeekorps in den Rücken Schliks.51FML Franz Schlik Graf zu Bassano und Weiskirchen, Divisionär in Böhmen zu Brünn, geb. 23.05.1789 Prag – gest. 17. 03.1862 Wien, Schematismus 1848, 42, General der Kavallerie und Kommandant des 2. Armee-Corps, Schematismus 1850, 20. Der für die Verteidigung der mittleren Theiß zuständige Mór Perczel verfolgte am 22. und 25. Januar die Kavalleriebrigade von GM. Franz Ottinger52GM. Franz Ottinger, Schematismus 1848, 49 und als FML. im Schematismus 1851, 53. bis zur Grenze von Pest und „jagte mit dieser Aktion Windisch-Grätz einen solchen Schrecken ein“, dass dieser den Großteil der Görgei verfolgenden Truppen nach Buda-Pest zurückbeorderte.
Mit der nach der Evakuierung der Hauptstadt freigewordenen Verstärkung konnte Oberst György Klapka53Oberst György Klapka 07.04.1820 Temesvár – 17.05.1892 Budapest, General, Politiker. bei der oberen Theiß die Truppen Schliks schließlich stoppen. Schliks Truppen waren nach dem Gefecht bei Kaschau54Kaschau/Košice/Kassa – ca. 260 km N Budapest. mit der Pazifizierung Nordungarns beschäftigt und die so gewonnene Zeit reichte gerade aus, die ungarische Armee zu verstärken und neu zu organisieren. Schlik begann am 19. Jänner wieder anzugreifen. Am 22. und 23. Jänner gelang es Klapkas Truppen, diese Attacken bei Tarcal und Bodrogkeresztúr55Tarcal und Bodrogkeresztúr – kleine Orte ca. 90 km N Debrezen/Debrecen. zu stoppen. Schlik erhielt Ende Jänner Verstärkung von Windisch-Grätz und begann wieder anzugreifen. Klapka gab die Linie an der Bodrog auf und zog sich an die Theiß zurück. Am 31. Jänner gelang es ihm bei Tokaj erneut, Schlik zurückzuwerfen, der sich in der Folge Richtung Kaschau zurückzog. Nach den Erfolgen von Klapka und Perczel sowie dem Durchbruch bei Branyiszkó war die Zeit der Gegenoffensive gekommen. Ende Jänner 1849 begann die Konzentration der ungarischen Truppen hinter der Theiß. Am 26. und 27. Februar wurden sie bei Kápolna56Kápolna – ca. 100 km O Budapest. von den Truppen Windisch-Grätz schwer geschlagen. Daraufhin wurde Görgei am 30. März 1849 provisorisch mit der Armeeführung betraut. In dieser Funktion blieb er bis zum 1. Juli 1849 und übernahm im Mai 1849 auch noch das Ressort des Verteidigungsministers.
Windisch-Grätz meldete die Zerschlagung des „rebellierenden Gesindels“ nach Olmütz, wagte es allerdings nicht, der geschlagenen Armee über die Theiß zu folgen und sie endgültig zu vernichten. Daraufhin stabilisierten sich die Positionen der ungarischen Armee und Windisch-Grätz erkannte, dass er sich geirrt hatte. Ende Februar setzte er – wenig erfolgreich – wieder auf Angriff. Am 12. April 1849 wurde Windisch-Grätz seines Kommandos enthoben und FML. Ludwig Freiherr von Welden,57Franz Ludwig Freiherr von Welden – Mai 1782 Laupheim/Württemberg – 07.08.1853 Graz, FML, vgl. Constantin von WURZBACH, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. Bd. 54. damals Zivil- und Militärgouverneur von Wien, zu seinem Nachfolger bestellt.58Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, XL–XLII.
Der Kommandowechsel an der Spitze der österreichischen Truppen in Ungarn hatte für diese keine Verbesserung gebracht; im Gegenteil, das siegreiche Vorgehen der Honved59Honvéd – Freiwilligenarmee 1848/49, später k. u. Landwehr. ließ eine militärische Katastrophe der kaiserlichen Armee befürchten. Unter dem Druck der Ereignisse wurde die Frage, ob russische Hilfe zur Niederschlagung der ungarischen „Rebellion“ in Anspruch genommen werden sollte, immer aktueller. Das Zarenreich war bereits Anfang Februar 1849 den bedrängten österreichischen Truppen in Siebenbürgen zu Hilfe geeilt. Dabei hatte es sich allerdings um eine lokal wie zeitlich begrenzte Operation gehandelt, die zudem als eine nicht von Regierungsseite initiierte Aktion dargestellt worden war. Denn für Ministerpräsident Schwarzenberg60Fürst Felix Schwarzenberg (1800 – 1852), Ministerpräsident (1848 – 1852) und Außenminister während der Einführung des Neoabsolutismus. und seine Regierung hätte die offizielle Zuziehung einer ausländischen bewaffneten Macht zur Lösung der inneren militärischen Schwierigkeiten einen zu großen Prestigeverlust bedeutet. Das von Franz Joseph eigenhändig verfasste Schreiben an den Zaren vom 1. Mai, in dem er um Waffenhilfe bat, erhielt damit einen hochoffiziellen Charakter – eine Forderung der Russen, auf die einzugehen Schwarzenberg lange gezögert hatte. Welden sah sich mit der Gesamtsituation überfordert und wurde Ende Mai 1849 durch Julius Freiherr von Haynau61Julius Freiherr von Haynau FZM. (1786 – 1853), schlug 1849 die Revolutionen bei Brescia und in Ungarn mit besonderer Härt nieder. ersetzt. Die Zivilverwaltung sollte in die Hände eines Ministerialkommissärs gelegt werden und es war Innenminister Bach,62Alexander Freiherr von Bach (1813 – 1893), 1849 – 1859 Innenminister, zunächst liberal, später klerikal-absolutistisch. der die Grundsätze für die künftige Behandlung Ungarns im Mai 1849 formulierte: „Die Länder der Stephanskrone werden auch nach der Niederwerfung der Rebellion noch geraume Zeit einem militärischen Regiment unterworfen bleiben“, das Kriegsrecht solle fortdauern, die Zivil- und Militärgewalt in der Hand des Oberbefehlshabers verbleiben.
Mit der Oktroyierung der Märzverfassung 1849 erlosch der Anspruch Ungarns auf eine Sonderstellung. Es war klar, dass den Führern des Habsburgerreiches nicht im Entferntesten daran gelegen war, die territorialen oder administrativen Forderungen der Nationalitäten zu erfüllen, sondern dass sie nur die Zentralisierung des Reiches im Sinn hatten. Dies ließ die ungarische militärische und politische Führung zur Schlussfolgerung gelangen, dass es keinen Sinn hat einen Frieden zu suchen, da die andere Seite ausschließlich bestrebt ist, die staatliche Existenz Ungarns zu zerschlagen.
Auf Antrag Kossuths wurde als Antwort auf die Olmützer Märzverfassung am 14. April der Beschluss gefasst, die Habsburger zu dethronisieren. Am 19. April lag die fertig formulierte Unabhängigkeitserklärung vor. Danach war klar, dass der Konflikt zwischen Österreich und Ungarn nur mehr mit der totalen Niederlage der einen oder anderen Seite zu einem Ende kommen konnte. Die ungarische politische Führung versuchte die russische Intervention mit außenpolitischen Mitteln zu verhindern — vollkommen umsonst. Die einzige Möglichkeit wären Verhandlungen gewesen. Deshalb glaubte der ungarische Oberkommandant Görgei, dass noch vor Eintreffen der russischen Hauptarmee die k. k. Truppen geschlagen werden müssten und schlug vor, sich bei Komorn63Komorn/Komárom/Komárno – Festung Komorn an der Donau, 45 km O Györ, ca. 90 km NW Budapest. zu sammeln. Wenn der Plan letztlich auch gescheitert ist, so war er zweifelsohne realistisch. Bei Komorn hätte die ungarische Armee ca. zehn bis fünfzehn Tage Zeit gehabt, Haynau zu schlagen. Durch ein Zusammenziehen der ungarischen Armee hätte das zahlenmäßige Übergewicht des k. k. Hauptkorps ausgeglichen werden können. Den Ungarn wäre auch zugute gekommen, dass Haynau und Paskiewitsch64Marschall Iwan Fjodorowitsch Paskewitsch-Eriwanski, Fürst von Warschau, (1794 – 1856). aus Prestigegründen eine engere Zusammenarbeit vermieden; Haynau wollte noch vor Eintreffen der Russen siegen, Paskiewitsch (und Zar Nikolaus) hätten es nicht bedauert, wenn Görgei den Österreichern noch eine Niederlage zugefügt hätte.
Kossuth löste im Juli 1849 Görgei als Oberkommandierenden ab, der mit dem Posten betraute Feldmarschallleutnant Lázár Mészáros65Als Oberst Lázár von Mészáros noch im Schematismus 1848, 332 als Kommandant des Husaren-Regiments Nr. 5 enthalten. Zweiter Inhaber dieses Regiments war FM. Radetzky. konnte das Amt aber nicht antreten. Kossuth wollte das Amt selbst übernehmen, doch die Mehrheit der Regierung lehnte dies ab und forderte die Wiederernennung Görgeis, doch Kossuth ernannte Anfang August General Jozef Bem zum Oberbefehlshaber. Der aber konnte am 9. August bei Temeschwar66Temeschwar/Timișoara – 320 km SO Budapest, 50 km S Arad/Arad, Rumänien. nur mehr das Kommando der Hauptarmee übernehmen. Im Verlauf des Sommerfeldzuges in Oberungarn war Görgei mit der Führung der russischen Hauptarmee in Verhandlungen getreten, weil er hoffte, einen Keil zwischen Österreich und Russland treiben zu können. Die Russen wollten mit Hilfe der Verhandlungen erreichen, die aus ihrer Sicht beste ungarische Armee zur Kapitulation zu bewegen.67Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, XLIII–L.
Zar Nikolaus I. verbot Paskiewitsch mehrmals, mit den Ungarn politische Gespräche zu führen und ließ Görgei mitteilen, „wenn er über die Unterwerfung vor dem gesetzlichen Herrscher zu verhandeln wünsche“, solle er sich direkt an Haynau wenden. Diese Antwort datierte vom 9. August, als die ungarische Hauptarmee bei Temeschwar eine katastrophale Niederlage erlitt.
Am 10. August entschied der ungarische Ministerrat — ohne von der Niederlage überhaupt zu wissen — die ungarische Königskrone einem Mitglied der russischen Zarenfamilie anzubieten, wenn dieses gewillt sei, die Aprilgesetze zu akzeptieren. Nach dem Einlangen der Nachricht über die Niederlage bei Temeschwar ernannte Kossuth Görgei am 11. August zum Diktator, dankte mit einem Großteil der Regierung ab und verließ Arad.68Arad/Arad – 270 km SO Budapest, heute Rumänien.
Nach Temeschwar blieb die Armee Görgeis die einzige kampffähige Einheit der ungarischen Streitkräfte, aber es gab keinen Nachschub mehr. Und wie auch zuvor waren die Russen nur über eine bedingungslose Kapitulation zu sprechen bereit.
Görgei erklärte sich bereit, vor den Russen bedingungslos zu kapitulieren und hoffte auf den Großmut des Zaren, die ehemaligen k. k. Offiziere nicht einem unsicheren Schicksal und der Rachsucht der Feinde der ungarischen Nation auszusetzen: Es dürfte ja vielleicht genügen, wenn ich allein als Opfer fiele! Mit dieser Geste wollte er auch signalisieren, dass Österreich auf sich allein gestellt, unfähig gewesen wäre, den Krieg für sich zu entscheiden, und Österreich dazu die Hilfe einer weiteren Großmacht bedurft hatte. Wenn Görgei die Waffen vor Haynau, der ein Befürworter einer gnadenlosen Abrechnung war, niedergelegt hätte, hätte der k. k. Oberkommandierende hunderte von ehemaligen k. k. Offizieren, die ihren Dienst in der Honved geleistet hatten, im Schnellverfahren abgeurteilt und exekutiert. Görgei wählte also mit der Waffenstreckung seiner Armee vor den Russen am 13. August nur das kleinere Übel. Dem Beispiel Görgeis folgten in Kürze die anderen, noch bewaffneten ungarischen Kräfte und die Festungsbesatzungen. Der Besitz der beiden Festungen Peterwardein69Festung Peterwardein/Petrovaradin – ca. 80 km N Belgrad/Beograd an der Donau gelegen. und Komorn war den Österreichern freies Geleit und Straffreiheit für die Verteidiger wert. Ungarn liegt Eurer Majestät zu Füßen, meldete Paskiewitsch Zar Nikolaus I.70Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, L–LII.
Zum Jahrestag des Ausbruchs der Wiener Oktoberrevolution und des Todes des damaligen österreichischen Kriegsministers Theodor Graf Baillet de Latour, dem 6. Oktober 1849, erfasste eine Welle der Vergeltung das Land der Besiegten. An diesem Tag wurden der ungarische Ministerpräsident Lajos Battyhány.71Ludwig Graf Batthyány (10.02.1807 – 06.10.1849 hingerichtet) ungarischer Magnat und März bis September 1848 ungarischer Premierminister. und der Guerillahauptmann Imre Fekete72Zu Imre Fekete konnten keine näheren Daten gefunden werden. hingerichtet. Dreizehn hohe Kommandanten der Honvedarmee wurden am 6. Oktober 1849 in Arad hingerichtet.73Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, LIII.
Nach der Kapitulation hielt sich General Artúr Görgei vom 15. bis zum 29. August im Hauptquartier von Generalfeldmarschall Fürst Iwan Fjodorowitsch Paskiewitsch in Großwardein74Großwardein/Oradea/Nagyvárad – ca. 80 km SO Debrecen. auf. Hier wartete er die Entscheidung ab, mit der ihm am 27. August mitgeteilt wurde, dass er von Franz Joseph tatsächlich begnadigt wurde, und dass die kaiserlichen Behörden zu seinem Zwangswohnsitz Klagenfurt in Kärnten bestimmt hatten.75Vgl. György SPIRA, Die erste Schilderung von Artúr Görgei über seine Tätigkeit, in: Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs, Hg., Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 51 – 2004, Husum 2004.
Die Statistiken aus jener Zeit sind zwar widersprüchlich, dennoch ist bekannt, dass die österreichischen Militärgerichte mehr als 500 aufständische Soldaten und Zivilisten zum Tode verurteilten und an etwa 120 das Urteil vollstreckt wurde. Unter den Gehenkten und Erschossenen waren außer den dreizehn in Arad noch eine ansehnliche Zahl an kaiserlich-königlichen Offizieren und mehrere hochgestellte Beamte.76Vgl. DEÁK, Revolution, 280.
- 1Vgl. Jürgen OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt, eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2. Auflage, München 2016, 736–740.
- 2Brigitte MAZOHL, Die Habsburgermonarchie 1848-1918, in: Thomas Winkelbauer, Hg., Geschichte Österreichs, 3. Auflage, Stuttgart 2018, 391–476, hier 391.
- 3Vgl. Pieter M. JUDSON, Wien brennt! Die Revolution von 1848 und ihr liberales Erbe, Wien 1998, 24 f.
- 4Die Geheime Staatskonferenz war eine konstruierte, bis März 1848 bestehende, formal nur beratende, tatsächlich aber sehr einflussreiche Körperschaft zur Entlastung des behinderten Kaiser Ferdinand I. Richard BAMBERGER / Ernst BRUCKMÜLLER / Karl GUTKAS, Hg., Österreich-Lexikon, Bd. 2, 2 Bde., Wien 1995, 427.
- 5Vgl. Jiri KORALKA, Revolution in der Habsburgermonarchie, in: Dieter Dowe u. a., Hg., Europa 1848 Revolution und Reform, Bonn, Dietz 1998, 197–230, hier 197 f.
- 6Vgl. JUDSON, Wien, 9.
- 7Lajos Kossuth, (1802 – 1894), Jurist, Politiker, Journalist, Staatsmann, vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon, https://biographien.ac.at/ID-0.3031278-1 (15.08.2020).
- 8Pressburg/Bratislava/Posony – 70 km O Wien.
- 9Frankfurter Vorparlament.
- 10Helmut RUMPLER / Herwig WOLFRAM, Hg., Österreichische Geschichte 1804 – 1914 Eine Chance für Mitteleuropa, bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997, 276.
- 11Fürst Clemens Wenzel Lothar Metternich (1773 – 1859), k. k. Außenminister von 1809 bis 1848 BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 2, 51.
- 12RUMPLER / WOLFRAM, Geschichte, 276 f.
- 13Ferdinand I., 08.09.1793 Wien – 29.06.1875 Prag, Kaiser von Österreich 1835 – 1848, als Ferdinand V. König von Ungarn (1830 – 1848) Richard BAMBERGER / Ernst BRUCKMÜLLER / Karl GUTKAS, Hg., Österreich-Lexikon, Bd. 1, 2 Bde., Wien 1995, 310.
- 14Vgl. István DEÁK, Die rechtmäßige Revolution, Lajos Kossuth und die Ungarn 1848 – 1849, Wien / Graz 1989, 93–94, 101.
- 15Franz Freiherr von Pillersdorf, 01.03.1786 Brünn – 22.02.1862 Wien, liberaler Gegner von Metternich, Hofkanzler, Innenminister, Ministerpräsident, arbeitete im April 1848 die „Pillersdorfsche Verfassung“ aus. Vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 2, 196.
- 16Akademische Legion, Studentenfreikorps der Wiener Revolution 1848, vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 1, 14.
- 17Anton Freiherr von Doblhoff-Dier, 10.11.1800 Görz/Gorizia – 16.04.1842 Wien, Politiker, Handels-, Innen- und Kulturminister, Ministerpräsident, Gesandter in Den Haag, vgl. ebd; BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 1, 225.
- 18Erzherzog Johann von Österreich, 20.01.1782 Florenz – 10.05.1859 Graz, vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 1, 568.
- 19Vgl. RUMPLER / WOLFRAM, Geschichte, 279–283.
- 20Joseph Graf Jelačić von Bužim, 16.10.1801 Peterwardein/Petrovaradin – 19.05.1959 Agram/Zagreb, GM, Banus von Kroatien, BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 1, 565, bereits als Feldzeugmeister im Schematismus 1850, 22.
- 21Pákozd – 50 km SW Budapest, 10 km NO Stuhlweissenburg/Székesfehérvár.
- 22Ozora – 120 km SW Budapest, 60 km S Stuhlweissenburg/Székesfehérvár.
- 23Vgl. DEÁK, Revolution, 144 f
- 24Vgl. Einsatz des Grenadier-Baon Schwarzl in den Einsatzsatzbeschreibungen von WG I. Kapitel 5.3.
- 25FZM. Theodor Graf Baillet von Latour, 15.06.1780 Linz – 06.10.1848 Wien, Offizier und Politiker, Kriegsminister, vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 1, 684.
- 26Festung Olmütz/Olomouc – ca. 220 km NO Wien, 80 km NO Brünn.
- 27Feldmarschall Fürst Alfred zu Windisch-Grätz, 11.05.1787 Brüssel – 21.03.1862 Wien, vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 2, 651. und noch als FML und kommandierender General in Böhmen zu Prag, Schematismus 1848, 19.
- 28Kremsier/Kroměříž, ca. 50 km S Olmütz/Olomouc.
- 29Vgl. Róbert HERMANN / Thomas KLETECKA, Einleitung, in: Christoph Tepperberg / Jolán Szijj, Hg., Von der Revolution zur Reaktion; Quellen zur Militärgeschichte der ungarischen Revolution 1848 – 49, Budapest, Wien 2005, IX–LV, hier XXXIII.
- 30Cäsar Wenzel Messenhauser, 04.01.1813 Proßnitz/Prostějov – 16.11.1848 Wien, Offizier und Schriftsteller, 1848 Kommandant der Nationalgarde, vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 2, 49.
- 31Hermann Jellinek, 22.01.1822 Drslawitz/ Drslavice – 23.11.1848 Wien, Offizier, Schriftsteller, vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 1, 566.
- 32Robert Blum, 10.11.1805 Köln – 09.11.1848 Wien, deutscher Politiker, kam 1848 im Auftrag der Liberalen nach Wien, vgl. ebd., 131.
- 33General Josef Bem, 1795 Tarnow/Tarnów – 10.12.1850 Aleppo, Syrien, polnischer Offizier, vgl. ebd., 102.
- 34Vgl. RUMPLER / WOLFRAM, Geschichte, 285 f.
- 35Vgl. ebd., 286.
- 36Vgl. JUDSON, Wien, 9–11.
- 37Johann Josef Wenzel Graf Radetzky (1766 Trebnitz/Trzebnica – 1858 Mailand), Feldmarschall, bedeutender Heerführer, Vgl. BAMBERGER / BRUCKMÜLLER / GUTKAS, Österreich Bd. 2, 237.
- 38Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, XXX.
- 39Franz Joseph I. (1830 – 1916), Kaiser 1848 – 1916, König von Ungarn 1867 – 1916.
- 40Artúr Görgei/Artúr Görgey deToporcz (1818 – 1916) – ungarischer General, ehemals k. k. Obrlt. im Husaren-Regiment Nr. 12, Schematismus 1844, 343.
- 41Vgl. Christoph TEPPERBERG / Jolán SZIJJ, Hg., Von der Revolution zur Reaktion; Quellen zur Militärgeschichte der ungarischen Revolution 1848 – 49, Budapest / Wien 2005, XXXIV.
- 42Ritter Moritz/Mór Perczel von Bonyhád , 14.11.1811 Tolna – 23. Mai 1899, Bonyhád, ungarischer „Revolutionsgeneral“, Constantin von WURZBACH, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. Bd. 21, http://www.literature.at/viewer.alo?objid=11773&viewmode=fullscreen&page=2, Abs. 461–469 (13.08.2020).
- 43Moor/Mór – ca. 90 km W Budapest.
- 44Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, XXXIII f.
- 45Waitzen/Vác – ca. 40 km N Budapest, N des Donauknies.
- 46Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, XXXV–XL.
- 47Leopoldstadt/Leopoldov/Lipótvár – ca. 70 km N Pressburg/Bratislava.
- 48Zips/Spiš/Szepes – ca. 290 km NO Budapest, 380 km O Brünn/Brno. Slowakei.
- 49Theiß/Tisza/Tisa – Fluss der in der Ukraine aus zwei Flüssen entsteht, heute u. a. Grenzfluss Ukraine – Ungarn, fließt durch Ungarn, um bei Novi Sad in Serbien in die Donau zu münden. Vgl. Briefe Wilhelm I. Herbst 1849 bis Sommer 1850, Marmaros, Szigeth/Sighetu.
- 50Branyiszko/Braniskom/Branyiszkó – ca. 60 km NW Kosice, Slowakei.
- 51FML Franz Schlik Graf zu Bassano und Weiskirchen, Divisionär in Böhmen zu Brünn, geb. 23.05.1789 Prag – gest. 17. 03.1862 Wien, Schematismus 1848, 42, General der Kavallerie und Kommandant des 2. Armee-Corps, Schematismus 1850, 20.
- 52GM. Franz Ottinger, Schematismus 1848, 49 und als FML. im Schematismus 1851, 53.
- 53Oberst György Klapka 07.04.1820 Temesvár – 17.05.1892 Budapest, General, Politiker.
- 54Kaschau/Košice/Kassa – ca. 260 km N Budapest.
- 55Tarcal und Bodrogkeresztúr – kleine Orte ca. 90 km N Debrezen/Debrecen.
- 56Kápolna – ca. 100 km O Budapest.
- 57Franz Ludwig Freiherr von Welden – Mai 1782 Laupheim/Württemberg – 07.08.1853 Graz, FML, vgl. Constantin von WURZBACH, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. Bd. 54.
- 58Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, XL–XLII.
- 59Honvéd – Freiwilligenarmee 1848/49, später k. u. Landwehr.
- 60Fürst Felix Schwarzenberg (1800 – 1852), Ministerpräsident (1848 – 1852) und Außenminister während der Einführung des Neoabsolutismus.
- 61Julius Freiherr von Haynau FZM. (1786 – 1853), schlug 1849 die Revolutionen bei Brescia und in Ungarn mit besonderer Härt nieder.
- 62Alexander Freiherr von Bach (1813 – 1893), 1849 – 1859 Innenminister, zunächst liberal, später klerikal-absolutistisch.
- 63Komorn/Komárom/Komárno – Festung Komorn an der Donau, 45 km O Györ, ca. 90 km NW Budapest.
- 64Marschall Iwan Fjodorowitsch Paskewitsch-Eriwanski, Fürst von Warschau, (1794 – 1856).
- 65Als Oberst Lázár von Mészáros noch im Schematismus 1848, 332 als Kommandant des Husaren-Regiments Nr. 5 enthalten. Zweiter Inhaber dieses Regiments war FM. Radetzky.
- 66Temeschwar/Timișoara – 320 km SO Budapest, 50 km S Arad/Arad, Rumänien.
- 67Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, XLIII–L.
- 68Arad/Arad – 270 km SO Budapest, heute Rumänien.
- 69Festung Peterwardein/Petrovaradin – ca. 80 km N Belgrad/Beograd an der Donau gelegen.
- 70Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, L–LII.
- 71Ludwig Graf Batthyány (10.02.1807 – 06.10.1849 hingerichtet) ungarischer Magnat und März bis September 1848 ungarischer Premierminister.
- 72Zu Imre Fekete konnten keine näheren Daten gefunden werden.
- 73Vgl. HERMANN / KLETECKA, Einleitung, LIII.
- 74Großwardein/Oradea/Nagyvárad – ca. 80 km SO Debrecen.
- 75Vgl. György SPIRA, Die erste Schilderung von Artúr Görgei über seine Tätigkeit, in: Generaldirektion des Österreichischen Staatsarchivs, Hg., Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 51 – 2004, Husum 2004.
- 76Vgl. DEÁK, Revolution, 280.